Frage:
Erbitte Interpretation von Becketts "Glückliche Tage"?
2006-06-15 23:17:51 UTC
Erbitte Interpretation von Becketts "Glückliche Tage"?
Zwei antworten:
bambelbee1963
2006-06-16 02:28:55 UTC
Dies ist sozusagen der "Generalbass" einer Kom- position, die in ihrer Struktur an letzte Werke gro- ßer Komponisten erinnert, so an Beethovens letzte Streichquartette. Jenseitige Entrückung in Form höchster Verdichtung unter Verzicht auf jegliches nachvollziehbares oder als solches erkennbares Thema. So wie in dieser Musik sie selbst zum Motiv wird, gerinnt in Becketts "Glückliche Tage" die Darstellung des "Soseins" zum Gegenstand der Aufführung.



Winnie, eine alte Frau, ist zu Beginn des ersten Aktes bis zu den Hüften in einem Sandhügel eingegraben und hat um sich die kargen Utensilien ihres Lebens ausgebreitet: einen "Matchsack" - die Älteren kennen so etwas noch aus den sechziger Jahren - mit Schminkzeug, Lupe und - Omen?- Pistole - und einen Sonnenschirm. Hinter dem Hügel liegt Willie, ihr Gefährte, der sein eigenes, auf Zeitunglesen und Schlafen reduziertes Leben führt und nur wenige Worte von sich gibt.



Winnie plappert vor sich hin, untersucht - zum wie- vielsten Male? - die Gegenstände aus ihrem Sack, putzt sich die Zähne und entziffert auf fast schon rituelle Weise immer wieder die Aufschrift auf ihrer Zahnbürste. Sie überdeckt die Leere ihres Seins mit verbaler Existenzbestätigung - "ich rede, also bin ich" - und benötigt Willie weniger als aufmerksamen oder gar intelligenten Gesprächspartner denn als Echo ihrer selbst, das ihre Existenz bestätigt. Mehr braucht sie nicht, um glücklich zu sein, und sie spricht sich dieses Glück ständig selbst vor, redet es sich sozusagen ein. Doch in ihrem auf die im wahrsten Sinne des Wortes "sinnlosen" Tätigkeiten - Schlafen, Zähneputzen, Reden - reduzierten Leben ist schon das Überstehen eines weiteren Tages ein Erfolg, kurz Glück. Die Pistole vor ihr liefert ihr zwar eine wirkliche Alternative zu diesem Leben, sie aber begreift diese Alternative noch nicht einmal. Die Pistole dient mehr ihrer Unterhaltung als ihrem wirk- lichen Zweck. Ohne in den Anspruch einer Deutung dieses Stückes zu stellen - Beckett selbst hat Zeit seines Lebens eine Erklärung verweigert -, steht Winnies Lage für die der menschlichen Gattung: unbeweglich in einen festen Kontext eingemauert - Geburt, Lebensspanne, Tod - und der Sinnlosigkeit einer in absehbarer wenn auch ferner Zeit unter- gehenden Welt ausgeliefert. Nach dem Verlust der einfachen und überschaubaren Wahrheiten der Religion durch Aufklärung und Wissenschaft steht der Mensch vor dem gähnenden Abbgrund einer unerklärbaren Existenz, lebt aber dennoch weiter und wurschtelt sich mit Verdrängungstechniken durch das sinnlose Leben, die Möglichkeit des Suizids konsequent ausklammernd.



Im zweiten Akt sieht man Winnie bis zum Hals in den Sandhügel eingegraben. Sie kann jetzt nicht mehr mit ihren Utensilien hantieren, sondern muss sich vollständig auf die Sprache zurückziehen. In Ermangelung dieser Ablenkung reduziert sich ihr Monolog auf Erinnerungen und Assoziationen. Sie versucht, Teile ihres Körpers zu sehen, um sich ihrer selbst zu vergewissern, erkennt jedoch nur Fragmente von Nase und Lippen.

Ihre Gedanken kreisen um Willie, der ver- schwunden scheint. Sie erinnert sich an Erlebnisse aus ihrer Kindheit, versucht in tapferem Trotz, weiterhin "erlesene Verse" zu rezitieren, und verdrängt weiterhin ihre im Grunde genommen verzweifelte Lage. Ja, sie redet sich die existenzielle Vereinsamung - allein auf weiter Flur und völlig unbeweglich - schön und beschwört weiterhin die "glückli- chen Tage", die sie durch die Möglichkeit ungestörter Selbstgespräch als gegeben nimmt. Nie wird sie ihre Lage realistisch einschätzen, immer die Verzweifulung durch jetzt nur noch verbale Betriebsamkeit unter- drücken und verdrängen. Ohne Struktur und logischen Zusammenhang fließen die Gedan- ken aus ihrem Mund; solange sie redet, existiert sie und kann weitere "glückliche Tage" genießen. Wenn am Schluss Willie in letzter Anstrengung im Aufzug eines Leichen- bestatters den Hügel hinaufkriecht und ihr die Hand entgegenstreckt, bleibt offen, was er beabsichtigt: sie zu küssen oder endgültig zum Schweigen zu bringen. Winnie kann ihm nur noch die Augen zuwenden und starrt ihn in einer Mischung aus Glück und Verzweiflung an, bejubelt in ihm noch ein letztes Mal das andere menschliche Wesen, das zwar nicht mehr mit ihr spricht, aber einfach "da" ist. Willies in einer Art von Agonie nach Winnie ausgetreckter Arm markiert die letzte Ein- stellung, in der schließlich auch Winnies Monolog erstirbt.
2006-06-16 19:56:29 UTC
Beckett zu interpretieren ist nahezu unmöglich, da er immer Vielschichtigkeit in seinen Stücken zeigt.

Es gibt hier so viele Interpretationsebenen, daß ein herausgreifen von Molekülen den eigentlichen Inhalt (Die Gesamtheit seines Seins in Fächerung seines Wahrnehmens) schon verfärbt.

Beckett ist wohl jemand, der intuitiv und vom Herzen erfasst werden kann. Ihn zu gliedern wäre eine nahezu dreiste Form der Annäherung um endlich zu finden.



Geht es bei Ihnen um eine anstehende Klausur?



Ich kann Ihnen Beckett nur empfehlen. Manchmal ist es besser selbst zu lesen.


Dieser Inhalt wurde ursprünglich auf Y! Answers veröffentlicht, einer Q&A-Website, die 2021 eingestellt wurde.
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