Christian Morgenstern - Der Zwölf-Elf
Der Zwölf-Elf hebt die linke Hand:
Da schlägt es Mitternacht im Land.
Es lauscht der Teich mit offnem Mund
Ganz leise heult der Schluchtenhund.
Die Dommel reckt sich auf im Rohr
Der Moosfrosch lugt aus seinem Moor.
Der Schneck horcht auf in seinem Haus
Desglelchen die Kartoffelmaus.
Das Irrlicht selbst macht Halt und Rast
auf einem windgebrochnen Ast-
Sophie, die Maid, hat ein Gesicht:
Das Mondschaf geht zum Hochgericht.
Die Galgenbrüder wehn im Wind.
Im fernen Dorfe schreit ein Kind.
Zwei Maulwürf küssen sich zur Stund
als Neuvermählte auf den Mund.
Hingegen tief im finstern Wald
ein Nachtmahr seine Fäuste ballt:
Dieweil ein später Wanderstrumpf
sich nicht verlief in Teich und Sumpf.
Der Rabe Ralf ruft schaurig: »Kra!
Das End ist da! Das End ist da!«
Der Zwölf-Elf senkt die linke Hand:
Und wieder schläft das ganze Land.
oder
Kurt Tucholsky - Augen in der Großstadt
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang, die
dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast's gefunden,
nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück...
Vorbei, verweht, nie wieder.
Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Er sieht hinüber
und zieht vorüber ...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das?
Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.